2.9.10

Der erste Tag

Als er zurück aus der Schule kam, sah er viel grösser aus. Gestreckter Körper, resolute Bewegungen, den Kopf hoch und die Nasespitze gespitzt mit Eitelkeit, der Gesichtsausdruck voll mit Arroganz, knappe Antworten, tiefe Stimme. "Morgen komme ich allein aus dem Hort", sagte er klipp und klar, "gib mir bitte den Hausschlüssel morgen mit, ich kann allein in der Wohnung bleiben." Und dann ging er in sein Zimmer. Ich folgte ihm nach.

Er legte ein Arbeitblatt auf den Arbeitstisch und mit Stolz und ernster Miene erklärte er mir, dass das seine erste Hausaufgabe sei. Während er redete, zeigte mir seine Körpersprache deutlich, dass das hier sein Territorium sei und dass es für mich da keinen Platz gebe. Dann schaute er seine Hausaufgabe kurz an, legte sie vorsichtig in eine rote Mappe, die Mappe steckte er in seine Schultasche und die Tasche stellte er auf den Tisch, stehend. Bis er schlafen ging, repetierte er dieses Ritual mindesten fünfmal. Noch kurz vor dem Einschlafen nahm er die Tasche weg vom Tisch und setzte sie vor die Zimmertür. "Jetzt ist es besser", sagte er und ging in sein Bett, versichert, dass die Nacht jetzt kein gemeines Spiel mehr mit seiner Schultasche spielen könnte.

Innerhalb von ein paar Stunden war er in einem anderen Entwicklungsstadium, in einem, wo die Pflichten und Rechte den Menschen einem erwachsener machen. Ich war fasziniert, obwohl noch am selben Morgen, als ich ihn in die Schule begleitete, hatte ich mit den Tränen gekämpft: vor Angst, dass er jetzt weg von mir geht.

Und trotzdem, als er schlafen ging, wurde er wieder ein kleines Kind das ohne Gutenachtgeschichte nicht ins Bett will, das Angst vor der Dunkelheit hat und einen Kuss von seinen Eltern fordert. „Ich habe dich sehr gern.“ - sagte er zu mir und umarmte mich fest. Ich fühlte mich glücklich. Müde ging ich früh ins Bett und schlief wie ein kleines Kind.